Am 17. Mai 2023 läuft nach aktuellem Verhandlungsstand das Abkommen über den Getreidetransport im Schwarzen Meer zwischen der Ukraine, Russland und der UN unter der Schirmherrschaft der Türkei aus. Das Abkommen regelt den Transit von Getreide aus der Ukraine über das Schwarze Meer trotz der Kampfhandlungen zwischen Russland und der Ukraine in diesem Seegebiet. Es wurde am 18. März 2023 für 60 Tage in seiner Laufzeit verlängert, doch der überschaubare Zeitraum dieser Verlängerung hat den Druck auf die Getreideversorgung und damit die Ernährungssicherheit in vielen Ländern nur vorübergehend gemindert.
Coface geht davon aus, dass die ernsten Versorgungsspannungen, die mit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine entstanden sind, zumindest bis zum Jahresende 2023 andauern werden.
Abkommen löst nur einen Teil der Probleme des Agrar- und Ernährungssektors
Der Krieg in der Ukraine hat zu einer dauerhaften Unterbrechung der maritimen Handelsströme geführt, die für den Transport von Weizen im Schwarzen Meer von wesentlicher Bedeutung sind. Die Ströme durch die Meerenge am Bosporus fallen um etwa 50% geringer aus als vor dem Krieg. Gleichzeitig entfallen auf Russland und die Ukraine zusammen 25% der weltweiten Weizenexporte. Die geringere Verfügbarkeit von Getreide hat deutliche Auswirkungen auf Länder, die stark von Importen abhängig sind, insbesondere in Westafrika, Zentralasien und Südostasien. Dadurch sind die landwirtschaftlichen Ressourcen für Russland ein besonders geeignetes Mittel, um Druck auf die westlichen Länder auszuüben, russischen Forderungen entgegenzukommen. Denn in diesen Ländern ist das Bewusstsein für die wachsende Bedrohung der Ernährungssicherheit in Entwicklungsländern besonders ausgeprägt.
Abgesehen von den genannten Transportschwierigkeiten hat der Krieg in der Ukraine weitere negative Auswirkungen auf die Agrarbranche. Denn es wurden Anbauflächen, Infrastruktur und Ausstattung zerstört. Nach Angaben des Ukrainischen Getreideverbands (UGA) wurden die Anbauflächen 2022 im Vergleich zu 2021 um 25% reduziert und die Prognosen für 2023 sind noch pessimistischer. Die Schadstoffbelastung des Bodens durch die Bombardierung bedroht künftige Ernten und viele für die landwirtschaftliche Produktion wichtige Chemieanlagen oder Lagereinrichtungen wurden zerstört. Das UN-Umweltprogramm schätzt, dass seit Beginn des Krieges in der Ukraine 618 Industrieanlagen oder kritische Infrastrukturen zerstört wurden.
2023 bleibt ein Jahr der Versorgungsunsicherheit
Dadurch, dass das Abkommen über den Getreidetransportkorridor am Schwarzen Meer nur um 60 Tage verlängert wurde, bleibt das Thema der Versorgungsunsicherheit fortlaufend bestehen. Dies zeigt sich auch am FAO-Lebensmittelpreisindex, der im Mai 2022 ein Rekordhoch erreichte und sich seitdem auf hohem Niveau stabilisiert hat. Diese Stresssituation machte sich das russische Verteidigungsministerium Ende April 2023 zu Nutze und drohte, das Abkommen nicht noch einmal zu verlängern. Das Ministerium warf den Ukrainern vor, im März und April die russische Schwarzmeerflotte auf der von Moskau annektierten Halbinsel Krim mit Drohnen attackiert zu haben. Ein weiteres Mal hatte die Regierung die Aussetzung des Abkommens angedroht, weil die vereinbarten Sanktionserleichterungen für russische Düngerexporte nach russischer Ansicht nicht ausreichend umgesetzt wurden.
Diese Transportunsicherheit fällt zusammen mit einem – unter anderem witterungsbedingt – erwarteten Rückgang der globalen Getreideproduktion in der Saison 2022/23 um 2%. Die Angebotsknappheit bei gleichbleibender Nachfrage könnte wieder zu ungewünschten Reaktionen wie protektionistischen Maßnahmen führen. Solche könnten den 2022 in Kraft getretenen ähneln (vgl. Ägypten, Indien), um dem Inflationsdruck oder der Nahrungsmittelknappheit zu begegnen. Zudem dürfte die verringerte Getreideproduktion die Konzentration der Lagerbestände auf einige wenige Schlüsselländer noch verstärken. In den letzten Jahren hat China seine Speicherkapazitäten stetig erhöht und verfügt nun über mehr als 50% der weltweiten Weizenvorräte. Dies geht zu Lasten der Getreide exportierenden Länder, die nur noch 7,3% der globalen Weizenvorräte im Jahr 2022 hielten – gegenüber 11,3% im Jahr 2010. Das Horten der Getreidebestände trocknet den internationalen Getreidehandel aus und führt zu volatileren Getreidepreisen.