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10.07.2013
Länder- und Branchenbewertungen, Kongress Länderrisiken, Spezial

Die Macht der Mittelschicht

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Die Mittelschicht Brasiliens und der Türkei verschaffen sich Gehör. Chancen und Risiken beider Länder standen im Fokus des Kongress Länderrisiken.

 

von Sylvia Röhrig, F.A.Z.-Institut

„Die Herausbildung von breiten Mittelschichten in aufstrebenden Märkten rückt die Regierungsführung zunehmend in den Mittelpunkt und stellt die größte Herausforderung für aufstrebende Länder dar“, sagte Yves Zlotowski, Chefvolkswirt von Coface, am 16. Mai im Rahmen des Kongresses Länderrisiken in Mainz. Hier diskutierten Experten ausführlich über die Möglichkeiten und Probleme von Brasilien und der Türkei. In beiden Ländern gilt: Die neuen Mittelschichten fordern zunehmend Transparenz und sagen der Korruption den Kampf an. Die jüngsten Protestbewegungen in der Türkei und Brasilien zeigen diese Entwicklung deutlich. Auch wenn in beiden Ländern nicht absehbar ist, welche langfristigen Folgen die Proteste auf Politik und Wirtschaft haben werden, könnte eine stärker fordernde Zivilgesellschaft entscheidende Impulse für politische und wirtschaftliche Reformen in beiden Ländern geben.

Unternehmensvertreter in den Länderworkshops Brasilien und Türkei berichteten zwar, dass deutsche Unternehmen in den vergangenen Jahren sowohl in Brasilien als auch in der Türkei vom Aufschwung profitiert und gute Geschäfte gemacht hätten. So zum Beispiel Andreas Fobbe von der ifm electronic GmbH, der erfolgreich ein Vertriebssystem in Brasilien aufbaute oder Andreas Spamer-Schmidt, Leiter Vertrieb Export, Becker-Antriebe, der mit Hilfe einer Tochtergesellschaft in Izmir seinen Umsatz am türkischen Markt verdoppeln konnte. Doch die wirtschaftliche Lage habe sich nun in beiden Ländern eingetrübt.

Brasilien - Reformen verschlafen

In Brasilien habe die Regierung während des Aufschwungs versäumt, notwendige Strukturreformen umzusetzen. Dies könnte das Land nun vor größere Probleme stellen. Barbara Zimniok, Bereichsleiterin Amerika, Germany Trade & Invest, erläuterte: „Während des Aufschwungs erweiterte sich die Mittelschicht um 40 Millionen auf insgesamt 100 Millionen Menschen. Diese Haushalte, die bislang mit ihrem Konsum das Wachstum stützten, leiden nun zunehmend unter steigenden Inflationsraten und Zinsen.“ Zudem schwächelten die Investitionen im Industriesektor. Dieser verliere wegen hoher Kosten (Stichwort „Custo Brasil“)  zunehmend an internationaler Wettbewerbsfähigkeit.

Dr. Marcus Felsner, Geschäftsführender Partner von Rödl & Partner, gab zu bedenken, dass auch das komplexe Steuersystem wie eine strukturelle Wachstumsbremse wirke. „Der administrative  Aufwand, seine steuerlichen Erklärungspflichten in Brasilien zu erfüllen, ist enorm“, betonte er. „Unternehmen wenden derzeit jährlich 2.600 Stunden für steuerliche Fragen auf.“ Weiterhin erklärte er, dass Brasilien über die effizienteste Finanzverwaltung der Welt verfüge und von Unternehmen monatliche Steuererklärungen verlange. „Aufgrund ausgefeilter Software kann die brasilianische Finanzverwaltung die Unternehmen bestens durchleuchten“, sagte Felsner. Die überbordende Bürokratie spiegle eine Überforderung der Verwaltung mit ihren eigenen Vorschriften wieder. Das  habe vor allem mit der unzureichenden Bildung und Qualifikation, der handwerklich schlechten Gesetzgebung sowie der mangelnden Personalressourcen zu tun.

Türkei – schwache Nachfrage aus Europa

„Auch in der Türkei haben sich nach der spektakulären Entwicklung im Verlauf der vergangenen zehn Jahre die wirtschaftlichen Aussichten etwas verschlechtert“, beobachtet Jochen Böhm, Risk Underwriting Director, Coface in Deutschland, im Workshop Türkei. Wegen restriktiver Maßnahmen zur Bekämpfung der Überhitzung werde die Wirtschaft 2013 lediglich noch um gut 2% zulegen. „Ich sehe immer noch ein großes Potential in der Türkei, aber auch wachsende wirtschaftliche Risiken. Ein enormes Leistungsbilanzdefizit, das durch die hohen Energieimporte entsteht, macht das Land abhängig von Auslandskapital“, erklärte er weiterhin. Nur noch 38% der türkischen Exporte gingen in die Europäische Union. Die Türkei versuche die schwache Nachfrage aus Europa durch eine stärkere Ausrichtung des Handels in andere Märkte Asiens, des Nahen Ostens oder Afrikas zu kompensieren, was aber nicht vollständig gelinge, ergänzte Şenol Koçdemir, Route Manager Türkei, Geis Eurocargo GmbH.

Einig waren sich die Referenten darüber, dass ein EU-Beitritt der Türkei das Auslandsgeschäft zusätzlich erleichtern würde. Faktisch habe man zwar schon eine Zollunion, so Koçdemir, lediglich das Zollverfahren dauere immer noch etwas länger. Was fehle, sei vor allem die Freizügigkeit der Bürger. Das würde die Mobilität der Mitarbeiter zwischen der deutschen und der türkischen Gesellschaft erleichtern, ergänzte Spamer-Schmidt.

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