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12.12.2022
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Ausblick 2023: Augen zu und durch

Ausblick 2023: Augen zu und durch / Das Bild zeigt Coface Volkswirtin Christiane von Berg

Von Christiane von Berg,
Volkswirtin für Nordeuropa & Belgien

In der volkswirtschaftlichen Statistik gibt es viele Ansätze, die Zukunft zu prognostizieren, wenn man keine neuen Anhaltspunkte hat. Eine Möglichkeit ist, dass die Wirtschaft zum langfristigen Durchschnitt zurückkehrt (getreu dem Motto: „Das haben wir immer schon so gemacht“); eine andere, dass sich die unmittelbare Vergangenheit einfach wiederholt. Wenn wir das letztgenannte Szenario auf die 20er-Jahre dieses Jahrhunderts anwenden, dann blüht uns ein weiteres Jahr voller Risiken und schlechter Nachrichten – aber auch ungeahnter Kurswechsel, die die schlimmsten Auswirkungen abfedern. In diesem Sinne bleiben wir also bei der neuen 20er-Jahre-Tradition, dass Prognosen wenig Sinn ergeben, da sie kaum eintreffen und sprechen stattdessen ein paar Möglichkeiten an, wie sich die Wirtschaft 2023 entwickeln könnte. Oder um es mit den Worten aus Artikel 2 des Rheinischen Grundgesetzes meiner Heimat zu sagen: „Et kütt wie et kütt“.

Konjunkturwinter 2022/23: Schwarzmalerei vs. Faktenlage

Eine sich wiederholende Erkenntnis aus dem Jahr 2022 (wiederholend, da auch schon 2020 das Thema) ist, dass sich die Wirtschaft deutlich besser schlägt als das viele Marktteilnehmer wahrhaben wollen. Wenn man auf die letzten Wochen zurückblickt, muss man sagen, dass viele pessimistische Überlegungen, die unmittelbar nach dem Kriegsbeginn in der Ukraine angestellt wurden, erfreulicherweise nicht eingetroffen sind. Die Preise gingen zwar durch die Decke, doch der Private Konsum brach nicht wie befürchtet ein. Ganz im Gegenteil, er stieg sogar an, angetrieben von nachgeholten Hochzeiten, Partys und vielen, vielen Reisen. Russland liefert zwar kein Erdgas mehr nach Deutschland, aber die meisten Industriebetriebe produzieren auch am Ende des Jahres 2022 noch. Ich habe bislang noch keinen Blackout erlebt und musste auch noch nicht frieren, denn der Kältewinter blieb „dank“ der globalen Erwärmung – wenig verwunderlich – bisher aus. Ganz besonders freue ich mich, dass bisher keine neue Pandemiewelle umgeht und wir ohne Maskenpflicht, abgesagte Feiern und Konzerte in den Winter gestartet sind. So kommt es dann auch, dass die deutsche Wirtschaft selbst im dritten Quartal 2022 noch wachsen konnte. Der angekündigte Konjunktureinbruch wurde ein ums andere Mal nach hinten verschoben.

Bleibt es so? Das ist wohl die Quizfrage des Jahres. Die Tatsache, dass sich die Schwarzmaler in den vergangenen Monaten immer wieder geirrt haben, hat mehrere Gründe. Zunächst einmal verkaufen sich schlechte Nachrichten, die leicht verständlich sind, besser als gute Nachrichten mit komplizierten Erklärungen. Ja, die Inflation drückt den Privaten Konsum nach unten und es gibt viele Menschen, die sich ihre gewohnten Einkäufe nicht mehr leisten können. Aber: Wir kennen nicht die Anzahl oder die potenzielle Kaufkraft dieser Personen im Verhältnis zu der Konsumentengruppe, die noch immer gut konsumieren kann und aufgrund der Ersparnisse der letzten Jahre viel nachzuholen hat. Da es gesellschaftlich nicht gut ankommt, über große Weihnachtsgeschenke in Zeiten von Knappheit zu sprechen, werden sich diese Personengruppen (und ja, ich zähle mich dazu) nicht öffentlich dazu äußern. Das Konsumpotenzial ist also äußerst unklar – vor allem wenn es um Dienstleistungen geht, auf die man in den letzten Jahren verzichtet hat (z. B. die Weihnachts- und die Silvesterfeiern, der Skiurlaub oder die Fernreisen). Auch Unternehmen und Verbände haben natürlich den Hang dazu, die Aussichten eher zu pessimistisch zu sehen als abzuwarten, was tatsächlich passiert. Denn dann kann das Kind schon in den Brunnen gefallen sein. Unterm Strich bleiben die Investitionstätigkeiten der Unternehmen im Jahr 2022 recht stark – zumindest bisher. Eine valide Annahme wäre dennoch, dass die überraschend dynamischen Wirtschaftszahlen nicht unbegrenzt anhalten können, sondern eine (wenn auch weniger drastische) Abkühlung der Wirtschaft über die Wintermonate und das Frühjahr erfolgt. Dies alles hängt davon ab, wie viel Energie in diesem Winter verbraucht wird und wie sehr andere Energiequellen zur Verfügung stehen, wenn die Gasspeicher leer sind. In dieser Hinsicht könnte eher der nächste Herbst das böse Erwachen bringen, wenn wieder alle europäischen Länder um ein noch kleineres Angebot buhlen, da Russland dieses Mal von Beginn an aus dem Spiel ist.

Der ganz normale Wahnsinn: Inflation, Fachkräftemangel, Lieferkettenprobleme

Es ist schon erstaunlich, wie man sich an Risiken, die jedes für sich in früheren Zeiten die Menschen um den Schlaf gebracht hätten, gewöhnt. Aber genau das ist der Zustand in den 20er Jahren. Man lernt mit der hohen Inflation zu leben. Die Preise werden erst einmal weiter steigen, aber in einer deutlich verringerten Geschwindigkeit, da der Staat einige Preisanstiege über Maßnahmen wie die Gaspreisbremse abfedert. Dies lässt dann mathematisch die Inflationsrate fallen, denn diese ist ja immer ein Vergleich zum Preisanstieg des Vorjahres. Schwierig dürfte es werden, wenn die erwarteten Knappheiten wirklich sichtbar werden, also wenn die Gasspeicher leer sind. Zudem wachsen auch die Löhne dynamisch an, um die Kaufkraft zu erhalten. Dies stützt aber wiederrum die Inflation. Bis sich diese beiden Waagschalen eingependelt haben, wird noch einige Zeit vergehen.

Befeuert wird das Ganze noch mit dem Ausscheiden der Baby-Boomer aus dem Arbeitsmarkt. Mit ihnen geht eine Heerschar erfahrener, fleißiger und auch genügsamer Menschen in den Ruhestand, während die übrig gebliebene, deutlich kleinere Arbeitnehmerschaft nun eine höhere Marktmacht hat. Das bedeutet, dass Forderungen nach mehr Lohn und/oder geringeren Arbeitszeiten und weiteren Extras viel eher umgesetzt werden können (wer kann es den jüngeren Generationen auch verdenken, die sichere Rente existiert schließlich nur noch in den Nostalgie-Shows der 90er Jahre). Damit bleibt uns das erhöhte Preisniveau noch eine längere Zeit erhalten. Wenn darüber hinaus die bestehenden Lieferkettenprobleme anhalten, wird es wirklich schwierig. Zumindest hier gibt es eine leichte Entspannung. Durch die langsame Konjunkturabkühlung in Europa sinkt die globale Nachfrage und gleichzeitig sendet China nach ungewöhnlich großen Protesten der Bevölkerung nun Signale, die Zero-COVID-Politik etwas lockerer anzugehen.

Staat und Zentralbanken: Zwei Wege, um mit Inflation umzugehen

Der Staat ist in den vergangenen Jahren im Dauereinsatz. Es gilt die Devise: „Nach der Krise ist vor der Krise“. Hierbei ist es beachtlich, dass die Politik in Deutschland zwar nicht immer die schnellste ist, in puncto Maßnahmen jedoch relativ gut eine pragmatische Politik umsetzt, die gerade im Falle der Grünen und in Teilen der FDP häufig gegen die eigentliche Partei-DNA geht. Oder hätte jemand vor einem Jahr erwartet, dass Robert Habeck zähneknirschend eine Verlängerung der Atomkraft mitträgt oder dass Christian Lindner bekannt dafür wird, neue Worte fürs Schuldenmachen zu erfinden? Die staatliche Hilfe bleibt in den 20er Jahren somit eine tragende Säule der Wirtschaft. Beim aktuellen Verschuldungsstand ist das noch eine nachhaltige Strategie. Schwierig wird es allerdings, wenn die kommenden Jahre weiterhin Krisenjahre werden. Denn letztlich verlässt sich ja ganz Europa auf die Haushaltsdisziplin der Deutschen. 

Auch die EZB hat jetzt alle Hände voll zu tun. War sie in den letzten 15 Jahren auf einem expansiven Kurs, so musste sie praktisch im Schnellverfahren erst vom geldpolitischen Gas gehen, dann bremsen und schließlich den Rückwärtsgang einlegen. So viele und große Zinsschritte gab es noch nie in ihrer Geschichte. Es wäre hier allerdings ein Trugschluss zu glauben, die Zentralbank möchte durch höhere Zinsen die aktuelle Wirtschaft im Euro-Raum bewusst ausbremsen, um die Inflation zu verringern. Dies ist auch ein Effekt, ganz klar – aber der EZB ist bewusst, dass die extrem starke Inflation nicht von der starken Wirtschaftskraft getrieben ist, sondern von den äußeren Umständen. Nein, das Augenmerk der EZB liegt darauf, ihre Glaubwürdigkeit an den Finanzmärkten nicht zu verspielen, um die langfristigen Inflationserwartungen im Zielbereich von 2% zu halten. Das, zusammen mit der Abwertung des Euros zum US-Dollar, die de facto einen Inflationsimport bedeutet, treibt die Währungshüter in Frankfurt an. 2023 sollte das Spiel in abgeschwächter Form weitergehen, abhängig von der tatsächlichen Konjunkturentwicklung, der Inflation und den Zinsausschlägen an den Finanzmärkten für überschuldete Euroraumländer. Niemand hat gesagt, dass der Job einfach wäre.

Unternehmen: Viel Gerede, wenig passiert

Die Geschichte des Insolvenzparadoxons hat sich im Jahr 2022 weiter fortgesetzt. Dieses beschreibt eine wirtschaftliche Situation, die eigentlich zu höheren Insolvenzen führen sollte, aber tatsächlich nur wenige Pleiten hervorbringt. Da die Statistiken nur mit erheblicher Verspätung veröffentlicht werden, kann man hier noch nicht für das gesamte Jahr sprechen. Aber es deutet sich zumindest bis zum November kein nennenswerter Anstieg der Insolvenzen für die Gesamtwirtschaft an. Klar, in einigen Branchen wie beispielweise im Bau oder im Verarbeitenden Gewerbe sind mehr Pleiten zu verzeichnen, aber die Gesamtwirtschaft hält sich wacker. Zudem wurden bis zum Sommer keine besonderen Zahlungsprobleme in Umfragen festgestellt. Den Antworten nach warten zwar alle auf den großen Knall, aber gekommen ist er eben bisher nicht. In den beiden vergangenen Jahren war tatsächlich der springende Punkt bei den Insolvenzen, dass zwar die Anzahl zum Vorjahr jeweils sank, aber der entstandene Schaden gemessen an den Forderungen aus Insolvenzen (ermittelt vom Statistischen Bundesamt) stieg. Es wurden also weniger, dafür aber größere Insolvenzen verzeichnet. In diesem Jahr funktioniert auch diese Erklärung nicht. Während 2021 noch ein Gesamtschaden im Zeitraum von Januar bis September von 45,5 Mrd. Euro im Raum stand (das Gesamtjahr 2021 brachte insgesamt eine Rechnung von 48,3 Mrd. Euro und war damit das teuerste Jahr seit 2009), wurden in diesem Jahr bis zum Sommer nur 10,8 Mrd. Euro als Schaden aus Insolvenzen aufgenommen. Es gilt hier zu bedenken, dass bis zum Juni 2022 noch die Pandemiehilfen gelaufen sind und auch im Sommer der Staat durch Stützungsmaßnahmen Verbrauchern und darüber auch Unternehmen geholfen hat. Ein Paradoxon bleibt es dennoch.

In der Zusammenfassung lässt sich sagen, dass die Zeiten so ungewiss sind wie in der Vergangenheit. Wer weiß, ob der Krieg in der Ukraine eskaliert oder es eher aus Ressourcenmangel zu neuen Verhandlungen kommt? Corona könnte auch mit einer neuen aggressiven Variante um die Ecke kommen oder China wird versuchen, Taiwan einzunehmen. Eindeutig ist allerdings, dass sich die deutsche Wirtschaft, wenn es hart auf hart kommt, doch agiler anpasst, als man es für möglich gehalten hat. In diesem Sinne passt hierzu wohl Artikel 3 des Rheinischen Grundgesetzes am besten: „Et hätt noch emmer joot jejange!“

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